Tagesspiegel: Herr Haase, Sie haben als einstiger „Food-Aktivist“ viel für die Berliner Gastronomie getan, haben die Markthalle Neun vorangetrieben, Konzepte wie „Kumpel und Keule“ entwickelt, Start-ups begleitet und auf unzähligen Podien zum Thema gesessen. Nun verlassen Sie Berlin, ernüchtert, wie es scheint.
Haase: Der Blick ändert sich, wenn man Familie hat. Ich habe mich natürlich gefragt, was ich in Berlin habe, und was ich vermissen werde, und das war erstaunlich wenig. Es blieb eher eine Sorge, was eigentlich aus dieser Stadt wird. Immer, wenn ich viel unterwegs war und vergleichen konnte, habe ich mich gefragt: Hey, Berlin, was ist mit dir los?
Aber die Szene hat doch viel politische Unterstützung?
Ja? Letztes Jahr saß ich bei der Eröffnung der „Food Week“ mit Frau Giffey auf der Bühne. Sie hat gesagt, ich liebe Gastronomie, Essen ist so wichtig, es treibt die Innovation voran. Mich hat das aufgeregt, denn diese Frau hat weder als Bürgermeisterin noch jetzt als Wirtschaftssenatorin irgendwas dafür getan, dass es diese Innovation in der Stadt gibt. Und nun stirbt die ganze Start-up-Szene gerade ein bisschen.
Berlin hat zwei Restaurants unter den „50 Best“, hat die meisten Michelin-Sterne unter den deutschen Großstädten, bietet ein unerreichtes stilistisches Spektrum von klassisch französisch bis vegan afghanisch. Läuft doch, sollte man denken.
Nur, dass viele davon inzwischen krasse Probleme haben und der Innovationsgeist auch in München oder Niedersachsen zu finden ist. Und Berlin hat nichts dafür getan! Die Stadt hat Leute wie mich angezogen, die ihre Ideen verwirklichen konnten und Experimente gewagt haben, das konnte sie. Wir fanden bezahlbare Räume, mussten uns oft nicht um Mieten kümmern. Hier sind wahnsinnig kreative Leute am Werk, die viel auf sich nehmen, die versuchen, Netzwerke nach Brandenburg zu knüpfen. Das sind Sachen, die in unseren jungen Köpfen entstanden sind, die quasi Slowfood aufs andere Tableau gehoben haben, als viele noch mit ihrem Glas Rotwein zufrieden waren. Die Markthalle Neun war dann der Punkt, an dem es greifbar wurde.
“Wir wollten nachhaltig gutes Essen für alle, aber es ist so ein exklusives Insel-Ding draus geworden.”
Hendrik Haase über die Berliner Ernährungswende
Tagesspiegel: Sind Sie denn heute zufrieden mit dem Geschaffenen?
Diese Themen haben sich verselbstständigt. Ich muss selbstkritisch sagen, dass wir zwar immer noch über Handwerk, Nachhaltigkeit und Regionalität sprechen. Aber die Betriebe, die das machen, beliefern inzwischen eine neue Oberschicht mit Statussymbolen. Leute, die kein Auto, nur ein Lastenfahrrad haben, aber sich Brot für zehn Euro leisten, nicht mehr im KaDeWe, aber vom kleinen Händler. Neulich stand ich vor einer Kartoffelsuppe, 15,90 Euro für 500 Milliliter, das wird hier von einem Sternekoch angeboten. Oder eine neue Bäckerei in Neukölln, da kostet ein Plunderteilchen mit einem Klecks Pudding fünf Euro. Wir wollten eine Ernährungswende anstoßen, mit nachhaltig gutem Essen für alle, aber es ist so ein exklusives Insel-Ding draus geworden.
Ist Handwerk heute schon automatisch Luxus?
Das ist sicher in vielen Fällen so, aber ich wünsche mir eine breite Diskussion darüber. Nehmen wir doch diese Bewegung und versuchen, das breiter anzulegen, mit Wirtschaftsförderung, damit, dass man in Netzwerken denkt und über Geld redet. Aber in Berlin habe ich in meiner Zeit in der Markthalle eher erlebt, dass die SPD vor der Tür stand und gegen uns als angebliche Luxusfabrikanten demonstriert hat – da fehlt mir einfach der Gestaltungswille. Sonst kriegen wir in der Tat eine Entwicklung wie in San Francisco, wo es die handwerklichen Produkte nur noch für eine Oberschicht mit Tech-Gehältern gibt. In gewisser Weise haben wir von dort schon die ganze Bäckerszene bekommen – mit Croissants für fünf Dollar, die einzeln in der Vitrine ausgestellt werden.
Haben andere deutsche Städte aus dem Berliner Beispiel gelernt?
Nehmen wir Hamburg. Die haben in den letzten Jahren immer neidisch nach Berlin geguckt, sagten, sowas wollen wir hier auch haben. Nun haben sie eine eigene Markthalle. Aber die ist vernetzt in einem Food-Cluster. Da arbeiten KI-Experten, Food-Labs, Start-ups, die großen Messen und die kleine Markthalle zusammen. Die werden praktisch ins Rathaus reingetragen, die Wirtschaftssenatorin kümmert sich drum, da entstehen Strukturen, da ist Politik am Werk: Man versucht, in den Raum um die Stadt hinein zu strahlen. Da geht es irgendwann auch um Kohle, sehr wichtig.
Da klingt schon an, dass es längst nicht mehr nur um Bio-Möhren und glückliche Schweine geht, sondern um Digitalisierung.
Bei mir hat das Thema gezündet, als ich in meiner Zeit mit „Kumpel und Keule“ im Silicon Valley mein vorletztes Buch über die neue Fleischkultur vorgestellt habe. Da saßen Leute, so alt wie ich, die arbeiten bei Meta, Alphabet und sonstwo, und alle sagten, hey, erzähl uns was vom Essen, wir sind die totalen Food-Fans. Die Google-Kantine sah aus wie die Markthalle Neun verzehnfacht, das Klischee vom Nerd, der am Monitor aus der Pappschachtel isst, stimmte überhaupt nicht. Umgekehrt: Alles, was ich nutze, um meine Themen zu kommunizieren, wird von Firmen aus diesem Umfeld gemacht. Nach dieser Reise wusste ich: Meine Arbeit der nächsten Jahre muss sich um die Digitalisierung der Food-Welt drehen.
Essen ist und bleibt analog.
Mag sein, ja. Aber ich glaube, dass alle Zukunftsfragen und Innovationen auch im Lebensmittelbereich mit Technologie zu tun haben, sei es in der Produktentwicklung, sei es in der Vermarktung, sei es über die neuen Wege: Wie kommen Leute eigentlich in meinen Laden? Wenn Sie bei Google Maps fragen, wo Sie denn in Berlin ein gesundes Mittagessen bekommen, dann kriegen Sie einen guten Vorschlag von der KI, ohne dass da ein Mensch draufgeguckt hätte, einfach auf Basis von Millionen Nutzerdaten. Um über eine Zukunft zu reden, die für alle funktioniert, kann es nicht sein, dass alle mit der Hand Brot backen und unbezahlte Praktikanten beschäftigen. Sondern wir müssen klären: Was macht der Mensch, was die Maschine? Und zwar so, dass da nicht nur billigstes Brot voller Zusätze rauskommt.
“Die Grüne Woche steht da wie ein Monolith und wird seit Jahren kaum angetastet.”
Hendrik Haase über verpasste Chancen in der Berliner Ernährungspolitik
Tagesspiegel: Darüber wird doch auch in Berlin intensiv nachgedacht.
Haase: Ich habe in den letzten Jahren viele Food-Startups begleitet, war Jurymitglied bei verschiedenen Innovationspreisen. Und ich habe mir früh all die Innovationsorte angeguckt wie Kitchen Town oder den Food-Tech-Campus von Edeka, der vor einem Jahr dichtgemacht wurde.
Ist hier nicht groß aufgefallen.
Dazu eine Anekdote: Ich habe mal eine Delegation der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, die ja die großen Messen wie die Anuga Food Tec und die Agritechnica ausrichtet, nach Moabit geführt, zur Baustelle vom Moa-Bogen, wo Edeka damals seinen Food-Tech-Campus eröffnet hatte. Das war für die total neu. Später habe ich das beim „Food Innovation Camp“ in der Hamburger Börse Peter Tschentscher erzählt, dem Bürgermeister. Food Campus von Edeka sagte der, das ist natürlich in Hamburg? Nein, sagte ich, in Berlin. Das war damals so, genau solche Sachen sind in Berlin passiert. Heute gibt es das nicht mehr, es ist nur noch eine Abteilung in der Zentrale – in Hamburg. Die machen das ganz anders. Auch in München: Neulich habe ich ein Panel in der Lidl-Zentrale in Bad Wimpfen eröffnet, da waren sechs Start-ups auf der Bühne, eins aus Berlin, zwei aus Aachen, drei aus München. Die bayerische Landeshauptstadt war sogar aktiver Kooperationspartner des Accelerator-Programms.
„Die Zugänge zu unserem Essen werden immer mehr von Technologie und von Tech-Konzernen bestimmt“
Tagesspiegel: Politik und Wirtschaft tun zu wenig – aber dafür haben wir in Berlin doch zumindest die Grüne Woche als zentralen Treffpunkt der Branche.
Haase: Und was machen wir hier in Berlin daraus? Die steht da wie ein Monolith und wird seit Jahren kaum angetastet. Da treffen sich die Agrarminister aus über 70 Ländern und sehen dann diese traurige Berlin-Halle. Nichts gegen Curry 36 und Florida-Eis – aber wenn das die einzigen sind, die da die Berliner Food-Wirtschaft repräsentieren … Stattdessen gibt es dann solche Marketingkampagnen wie „Berlins Industrie pulsiert“, ein bedrohliches rotes Metallherz schwebt in Blade-Runner-Optik über der Stadt – das soll die offizielle Vision von Berlin sein?
Hat man in Deutschland das Zusammenspiel von Essen und Technik noch nicht verstanden?
Ganz Europa ist in der Gefahr, abgehängt zu werden. Ich werde oft nach der Zukunft des Essens gefragt, kommt es aus dem 3-D-Drucker, solche Sachen. Aber mehr interessiert mich, welchen Einfluss selbstlernende Algorithmen wie ChatGPT auf unser Ernährungsverhalten ausüben werden. Wenn sie bei Siri zustimmen, dann arbeitet Apple in Zukunft mit ChatGPT zusammen. Das wurde kürzlich in einer großen Keynote illustriert, mit einem Kochrezept! „Siri, ich habe hier Lachs, Tomaten und eine Zitrone, mach mir doch bitte mal ein Rezept“. Die Zugänge zu unserem Essen werden immer mehr von Technologie und von Tech-Konzernen bestimmt, und wir müssen verdammt aufpassen, dass das auf Wegen passiert, die wir wollen. Dann können Nachhaltigkeit, Gesundheit, Regionalität eine große Rolle spielen.
Wohin zieht es Sie, wenn Sie Berlin jetzt verlassen?
Nach Andechs, ein Dorf in Oberbayern. Ein bisschen näher zur Natur und zur Landwirtschaft.