Die Anuga FoodTec ist die Leitmesse für die Zulieferer der Lebensmittel- und Getränkeindustrie und findet dieses Jahr vom 19. bis 22. März 2024 auf der Messe Köln statt.
Das Magazin der Messe hat mich zu den Perspektiven und Herausforderungen in der neuen Nahrungsmittelwirtschaft befragt.
Agrarrobotik, Drohnen, künstliche Intelligenz aber auch alternative Proteine, Vertical Farming oder zelluläre Landwirtschaft – die Lebensmittelbranche ist in Bewegung. Eine New Food Economy will ändern, wie wir Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten oder zu uns nehmen. Doch was ist eigentlich nötig, damit eine Idee auch auf den Markt findet, sich festsetzt und zur neuen Normalität wird? Der New Food Economy Experte Hendrik Haase sprach mit uns auf der Anuga FoodTec 2024 in Köln.
Hendrik Haase lebt für Lebensmittel. Und er baut Brücken. Früher zwischen Landwirtschaft und Konsumentenschaft, wobei es ihn vor allem um regionale Lebensmittel, Transparenz und Nachhaltigkeit ging. Heute stehen bei ihm Technologien im Mittelpunkt, und zwar entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Denn die Potenziale und Chancen unserer Zeit seien groß, sagt er. Doch es gäbe auch immer noch Gräben zwischen Urproduktion, Handel und Verbraucher. Wo er diese sieht und wie man sie überwinden kann, erzählt er uns im Interview.
Herr Haase, was meinen Sie eigentlich genau, wenn Sie von „New Food Economy“ sprechen?
Ich bin sehr viel in Food Labs und Food Hubs unterwegs. Dort finden sich Gründerinnen und Gründer zusammen, um an Ideen, an Technologien und an praktischen Dienstleistungen zu arbeiten, die sonst in der normalen klassischen Lebensmittelbranche nicht zu finden sind. Das ist für mich der Kern der New Food Economy. Und um diesen hat sich in den letzten Jahren ein durchaus vitales Ökosystem gebildet. In all den Labs und Co-Working-Spaces werden Lebensmittelketten, Lebensmittelproduktion, Lieferung, Handel, aber auch die Bewirtschaftung von Agrarflächen auf Basis innovativer Technologien neu gedacht. Aber ich muss dazu sagen, dass in den letzten Jahren auch in der klassischen Food Economy solche Wege gegangen werden. Unternehmen wie Fendt haben begonnen, Transformationszentren einzurichten; inhouse eigene Start-ups anzusiedeln oder Joint Ventures einzugehen. Auch das gehört für mich zur New Food Economy dazu.
Das heißt, es wird wirklich die gesamte Kette vom Acker bis auf den Tisch und darüber hinaus betrachtet?
Ja, und das finde ich so spannend. In den Food Hubs und Labs sitzen Gründerinnen und Gründer zusammen, die an den unterschiedlichsten Dingen arbeiten. Der eine kreiert ein neues Proteinprodukt aus dem Fermenter, die andere baut eine KI-gesteuerte Agrarrobotik und nebenan wird an einer App zur personalisierten Ernährung mithilfe von selbstlernenden Algorithmen programmiert. Da wird interdisziplinär gedacht und gearbeitet – und zwar über diese gesamte Kette hinweg. Das schafft Synergien. Und dieser Blick über den eigenen Tellerrand hat der Branche aus meiner Sicht bislang gefehlt. Da wird es natürlich schwierig mit übergreifenden Innovationen. Die aber, so glaube ich fest, brauchen wir dringend für unsere Zukunft.
Die Old Food Economy hat uns ja sehr lange Zeit gut ernährt. Warum, denken Sie, sollten wir die Transformation zulassen oder gar aktiv vorantreiben?
Weil die Herausforderungen heute durchaus komplexer sind. Geopolitik, Klimawandel, Verbrauchererwartungen – all das beeinflusst die klassische Lebensmittelbranche mehr denn je. Das sehen wir nicht nur daran, dass es sie jetzt auch in Deutschland auf die Straße treibt. Und ich bin mir sicher: Um diese Herausforderungen zu meistern, ist ein grundlegender Technologiewechsel nötig. Überspitzt gesagt: Es wird nicht reichen, einfach nur über eine neue Reifenaufhängung am Traktor nachzudenken. Wenn wir an alten Technologien kleben und sie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag optimieren, kommen wir nicht weiter. Wir müssen disruptive Gedanken zuzulassen. Auf der anderen Seite steht natürlich nach wie vor ein großer konservativer Anteil. Man hat das schon immer so gemacht und deshalb will man es eben weiter so machen. Aber wir merken ja an vielen Ecken und Enden, dass es so nicht weitergehen kann. Und dafür brauchen wir Impulse. Dafür brauchen wir einmal Visionäre und Visionärinnen, die weit in die Zukunft denken. Wir brauchen Gründerinnen, Entrepreneurs, Unternehmerinnen, die diese Transformation aktiv gestalten. Und natürlich, das will ich ebenfalls betonen, brauchen wir auch jene Unternehmen, die die Grundlast stemmen.
Die alte und die neue Welt stehen sich also nicht per se gegenüber, sondern sollten gemeinsam in die gleiche Richtung gehen?
Genau dahin müssen wir, auch wenn das leider häufig noch eher Wunschdenken ist. Gerade in der klassischen Old Food Economy werden diese Transformationsbemühungen gerne als Experimente von irgendwelchen Spinnern abgetan. Davor kann ich nur warnen. Das macht keinen satt. Ich glaube, wir brauchen da eine andere Innovationskultur, ein anderes Denken. Und da haben wir in Deutschland noch einiges aufzuarbeiten. Aber auch in der Start-up-Welt begegne ich immer wieder einer gewissen Hybris. Da denken manche: „Wir haben jetzt die Revolution auf dem Teller und alle werden das ab morgen essen.“ Doch das stimmt in vielen Fällen auch nicht. Da gilt es einen gewissen Respekt vor dem Erbe zu wahren. Denn die klassische Landwirtschaft sorgt natürlich nach wie vor dafür, dass wir alle satt werden.
Sie sprechen viel von Technologien, wenn Sie von der Transformation reden. Heißt das, die Technik wird’s schon richten?
Nein, eben nicht. Und das ist aus meiner Sicht eine der großen Herausforderungen. Und auch der Gefahren. Wenn man einfach nur auf neue Technologien setzt, vergisst man schnell den kulturellen Einfluss. Man vergisst die gesellschaftlichen Herausforderungen, die Politik und natürlich auch das traditionelle Wissen. Denn vieles, was in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten erprobt wurde, ist nicht per se veraltet. Auch das meine ich mit Hybris. Da kann man sich nicht einfach drüber stellen und erwarten, dass eine neue Technologie mit offenen Armen empfangen wird. Dafür braucht es eine funktionierende Innovationskultur. Denn viele der neuen Technologien wie datengetriebene Systeme oder selbstlernende Algorithmen sind wirklich mächtig, aber auch unsichtbar. Ein Traktor ist ein sichtbares Symbol. Und was man damit machen kann, weiß jedes Kind. Einen Algorithmus sieht man nicht. Und was der alles mit sich bringt, liegt auch oft im Verborgenen. Da ist der Blick unter die Motorhaube schwer.
Und schafft damit ein Spannungsfeld zwischen Innovation, Gesellschaft, Kultur und Politik?
So ist es. In Food Labs, bei Start-up, auf Messen wie der Anuga FoodTec – überall begegnet man Ingenieurinnen und Ingenieuren, die von ihren neuen Erfindungen begeistert sind. Immer kleinere Sensorik, immer smartere Algorithmen, herausragende Bilderkennung, umfangreiche Big-Data-Analysen. Diese Faszination teile ich. Das Problem entsteht dann, wenn man glaubt, das alleine würde genügen. In der Technologiegeschichte gibt es sehr viele Beispiele, die das Gegenteil zeigen. Die Swing Riots etwa. Das waren Aufstände Anfang der 1830er-Jahre in England. Damals sollten pferdebetriebene Dreschmaschinen eingesetzt werden, die ungefähr zehn Landarbeiter pro Dreschvorgang ersetzten. Das führte zu Angst um Arbeitsplätze. Zu Unmut. Und zu einer Gegenbewegung, die die Maschinen in Brand setzte. Das heißt, einerseits muss die Relevanz einer Innovation für alle erkennbar sein. Aber andererseits müssen auch ihre Folgen für alle Akteure offen diskutiert werden. Denn selbst die ausgereiftesten Technologien brauchen politischen und gesellschaftlichen Rückhalt. Und heute stehen gravierende Umbrüche vor uns; immer bessere Algorithmen, immer smartere Robotik; Biotechnologie; und am Horizont sehe ich schon die Quantencomputer. Das sind ernst zu nehmende Technologie, die wahnsinnigen Sprünge erzeugen werden. Doch Technologien dienen keinem Selbstzweck. Sie müssen gestaltet werden. Tun wir das nicht, werden wir Probleme bekommen. Dann haben wir moderne „Swing Riots“.
Wo genau ergeben sich die Schwierigkeiten?
Schwierigkeiten sehe ich vor allem da, wo ich die Politik nicht als aktiven Gestalter wahrnehme. Denn sie ist leider allzu oft nur ein Player, der hinterherläuft und versucht, im Nachgang noch irgendetwas zu regulieren. Gerade bei so überaus komplexeren Systemen wie der Lebensmittelbranche führt das zu einem mangelnden Verständnis der Innovationen in der Gesellschaft. Diese wird erst dann damit konfrontiert, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Da sehe ich Probleme; und zwar auch für solche Innovationen, die wirklich sehr spannend und hilfreich sind.
Wie sehen solche Fallstricke für die New Food Economy aus?
Eine Analyse geht davon aus, dass der Faktor Mensch im Bereich von Essenszubereitung, Gastronomie, Farming, Fischerei und auch Forstwirtschaft in über 90 Prozent der Fälle durch Automatisierung ersetzt werden könnte. Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann sollten wir unbedingt öfter darüber reden. Zum Beispiel definieren sich heute noch sehr viele Bäuerinnen und Bauern über ihre Maschinen. Wenn aber die Agrarrobotik zu gravierenden Umbrüchen auf den Höfen führt, macht das ein neues Selbstverständnis nötig. Und das kommt nicht stillschweigend über Nacht. Nach wie vor ist der Traktor das Symbol unserer Landwirtschaft. Und das bereits seit 130 Jahre. Dieser kulturelle Aspekt ist eine Seite. Eine andere hängt mit unseren gesellschaftlichen Werten und Normen zusammen. Denn gerade disruptive Technologien greifen tief in die Gewohnheiten vieler Menschen ein. Da stehen dann plötzlich Themen wie soziale Sicherheit oder Hoheit über die eigenen Daten zur Disposition.
Bei diesen Themen weichen die Auffassungen je nach Land und Kulturkreis stark voneinander ab. Heißt das, es gibt auch ein Spannungsfeld zwischen globaler Skalierung und lokaler Anpassung?
Richtig. Und das ist ebenfalls eine der großen Herausforderungen. Wir kennen das aus vielen anderen Bereichen. Da haben wir uns in Deutschland und Europa von Technologien abhängig gemacht, die nach anderen Wertmaßstäben gestaltet worden sind. Nun versuchen wir, irgendwie im Nachgang anzupassen. Das beste Beispiel ist die ganze Diskussion rund um Social Media. Hier stemmen wir uns irgendwie entgegen. Um wirklich nach Europa passende Alternativen zu entwickeln, ist es jetzt zu spät. Ich glaube aber, dass wir im Food-Bereich dafür noch Chancen haben. Hier können wir noch Alternativen in die Welt setzen. Und hier haben wir auch unsere Stärken. Den Maschinenbau zum Beispiel. Und die Innovationsstandorte, die wir nutzen können. Hier müssen wir uns starkmachen. Denn sonst werden wir in Europa früher oder später auch im Bereich der New Food Economy hinterherhängen und nur noch versuchen, zu regulieren.