Aussicht: Was passiert wenn Ernährung zum Lifestyle wird...


Alle reden über’s essen. Manchmal könnte man meinen das Lieblingsgesprächsthema Wetter wird gerade von einer neu erwachten Begeisterung für alles Ess- und Trinkbare verdrängt. Ob es nun um die neu eingerichtete Küche, das letzte Kochgadget geht, Rezepte aus irgendeinem Food-Blog, oder den neu angeschafften Grill – kulinarische Themen stehen hoch im Kurs.

Nicht nur in der eigenen Küche, sondern auch in immer neuen Kochshows und einer nie dagewesenen Vielfalt an Kochbüchern und Magazinen schlägt sich die Leidenschaft nieder. Das Klischee „Frau am Herd“ hat sich in vielen Haushalten längst zum „Mann am Herd“ gewandelt. Während alte Statussymbole, wie das schnelle Auto gesellschaftlich in Frage gestellt werden, entwickeln sich handgebrautes Kreativbier, das besonders marmorierte Dry-Age-Steak, oder der selbst gemachte vegane Smoothie zu neuen Insignien, mit denen man sich gerne öffentlich zeigt – offline zu Tisch oder online im Bilderfluss auf Instagram.

Spezialmagazine zu Naturwein, „The culture of tea“ oder Kaffee als Kunst im Zeitschriftenhandel in Berlin.

Spezialmagazine zu Naturwein, „The culture of tea“ oder Kaffee als Kunst im Zeitschriftenhandel in Berlin.

Gleichzeitig reißen die Diskusionen rund um sensible Themen, die heute ganz selbstverständlich zum Essen dazugehören, nicht ab. Schadet mein Steak dem Klima? Ist in der Suppe Glutamat? Esse ich zu viel Zucker?, sind dann nur einige der Fragen auf die Antworten und auch Alternativen gesucht werden. Zahlreiche Medienberichte liefern wöchentlich neues Futter für hitzige Debatten rund um den Teller.

©️Splendit Communication, Kelly Ashworth Design

©️Splendit Communication, Kelly Ashworth Design

Talking ‘bout my Foodie Generation

Besonders für die Generation der Millennials, die in den 80ern und 90er geboren ist, gehört die Selbstdefinition über das Essen mittlerweile ganz selbstverständlich dazu. Der ganz individuelle Lebensmittel-Konsum wird besonders für sie zu einem wichtigen Bestandteil des eigenen Ich-Narratives. „Food“ wird zum Lifestyle und ist heute vielerorts bereits Teil der Popkultur, so wie es Film, Mode oder Musik sind. Dinnerclubs von Hobbyköchen bilden in einigen Städten ernsthafte Konkurrenz zu bestehender Gastronomie. Modemarken eröffnen Pop-Up Restaurants und Food-Festivals sind zu ebenbürtigen Konkurrenten für Musik-Festivals geworden.

Die den Millennials nachfolgende Generation Z steht diesem Trend, laut Studien in Nichts nach. Beide Generationen sind heute nicht nur Treiber der Digitalisierung und bilden eine einflussreiche Konsumavantgarde, sondern stellen inzwischen auch die größte Konsumentengruppe dar. Ihre veränderten Ansprüchen treiben den Food-Markteers bereits die Schweißperlen auf die Stirn, da sie mit klassischer Werbung nur noch schlecht zu erreichen sind und extrem individuell behandelt werden wollen.

Am Besten lässt sich die „Generation Food“ natürlich in urbanen Zentren wie Berlin, London, Paris oder New York betrachten, wo die Verdichtung an Kulturen und die kritische Masse der „early Adopter“ am größten ist. Doch wer denkt, dass diese Entwicklung nur Metropolen betrifft, liegt falsch. Über digitale Wege verbreiten sich heute neue Ideen, Trends und Ansprüche viel schneller, als noch vor wenigen Jahren. Schneller als man denkt finden sie sich in Kürzester Zeit auf Millionen von Smartphones, setzen sich in Köpfen fest und sind dann in Form von neuen Produkten auf einmal auch im Regal um die Ecke anzutreffen.

„I‘m a Millennial, i want to know where my food comes from, what‘s in it ...and i want it now!“ fasst Louisa Burrwood von AgFounder das neue Lebensgefühl beim Farm & Food 4.0 Kongress während der Grünen Woche 2019 in Berlin zusammen.

„I‘m a Millennial, i want to know where my food comes from, what‘s in it ...and i want it now!“ fasst Louisa Burrwood von AgFounder das neue Lebensgefühl beim Farm & Food 4.0 Kongress während der Grünen Woche 2019 in Berlin zusammen.

Neue Erwartungen und Ansprüche 

Mit dem neuen Lebensgefühl geht ein neues Anspruchsdenken einher, das vor allem die Themen Transparenz, Authentizität und Nähe zum Produkt in den Mittelpunkt stellt. Wissen wo’s herkommt, was drin ist und wer es wie hergestellt hat, sind nur einige der zentralen Fragen auf die heute Antworten erwartet werden. Hinzu kommt: So wie man es von anderen Informationen gewohnt ist, sollen diese auch beim Essen in Windeseile abrufbar und deschiffrierbar sein.

Ganz selbstverständlich geht diese neue Generation von Genießern auch davon aus, dass auf diverse Essidentitäten Rücksicht genommen wird. Vegan, paleo, glutenfrei, kohlehydratarm, glutamatfrei sind da nur der Anfang.

Diese neue Vielfalt anzuerkennen, wert zu schätzen und adäquat zu adressieren ist eine weitere Herausforderung, die von Produzenten, Händler und Erzeuger angenommen werden muss. In Zeiten einer immer schneller werdenden Digitalisierung und Globalisierung entsteht so ein immer größer werdender Bedarf für authentische und sinnstiftende, individualisierte und nachhaltige Esslösungen.

Eine „New Food Economy“ entsteht 

Die skizzierten Entwicklung hat nicht nur zur Folge, dass immer mehr Verbraucher ihren Konsum und Produkte kritisch hinterfragen, sie begründet auch die Suche nach Alternativen. In einigen Fällen legt man inzwischen sogar wieder selbst Hand an und braut, bäckt, baut an oder hält sich Hühner im eigenen Garten.

Aus der „Generation Food“ entspringen jedoch nicht nur urbane Gärtner sondern auch immer mehr Gründer und Gründerinnen, die es nicht bei der Selbstversorgung belassen wollen. Sie initiieren Start-Ups, mit denen sie ihre Ideen für neue Produkte, Plattformen oder Services in die breite Masse tragen wollen. Der Berufswunsch der 90er „Was mit Medien“ hat sich so in vielen Fällen zu „Was mit Essen“ gewandelt.

Moderne, digitale Werkzeuge helfen jungen Startups heute dabei in kürzester Zeit Netzwerke aufzubauen, Kunden an sich zu binden und erste Prototypen auf den Weg zu bringen. Ob es sich dabei nun um eine neue Art von Restaurant oder einen neuen Snackriegel handelt, ist dabei unerheblich. Immer öfter sind es besonders QuereinsteigerInnen, die sich auf den Weg machen bestehende Verhältnisse zu revolutionieren und neue Verbindungen vom Acker bis zum Teller zu suchen.

Die neue Gründergeneration durchkreuzt mit ihren Startups und Ideen klassisches Schubladendenken, alte Geschäftsmodelle und Märkte. Ihre Innovationen entstehen durch die Vermischung von Disziplinen und Verschiebung der klassischen Grenzen entlang der Lieferketten.

Im ehemaligen Sitz des Pharmarriesen Pfizer arbeiten in Brooklyn, New York inzwischen über 200 junge Foodstartups an der Zukunft.

Im ehemaligen Sitz des Pharmarriesen Pfizer arbeiten in Brooklyn, New York inzwischen über 200 junge Foodstartups an der Zukunft.

In Deutschland herrscht noch wenig Verständnis für die aktuellen Entwicklungen – dabei bietet es enorme Chancen

Während dieses neue Lebensgefühl und die damit verbundene neue Ess-Ökonomie hierzulande noch häufig als „Hipsterkram“ diskreditiert wird, nehmen andere Länder und Städte den Lifestyle und die disruptiven Ideen junger GründerInnen weitaus ernster. In sogenannten Food-Startup-Acceleratoren – extra geschaffenen Gründerzentren – werden in New York, Kopenhagen, Wageningen oder Tel Aviv bereits bewusst kreative Räume geschaffen, in denen interdisziplinäre und crosssektorale Zusammenarbeit möglich werden. Für Deutschland wird es dringend Zeit diese Entwicklungen ernster zu nehmen, da man im internationalen Vergleich bereits hinterherhängt und den Anschluss an die Zukunft zu verlieren droht.

Im frisch eröffneten Accelerator „Food Tech Campus“ finden Food Startups in Berlin Moabit seit November die Möglichkeit sich zu vernetzen und Arbeitsplätze im Coworking Bereich zu mieten.

Im frisch eröffneten Accelerator „Food Tech Campus“ finden Food Startups in Berlin Moabit seit November die Möglichkeit sich zu vernetzen und Arbeitsplätze im Coworking Bereich zu mieten.

Städter sind dumm, haben keine Ahnung von der Landwirtschaft, hegen einen Groll gegen die Bauernschaft und wissen immer nur alles Besser. So lautet das gängige Klischee, das mir von vielen Landwirten, Politikern und Funktionären gespiegelt wird. Neben den als viel zu hoch wahrgenommenen Ansprüchen, wird dabei auch die scheinbar fehlende Zahlungsbereitschaft kritisiert.

Wer sich jedoch länger mit dem neuen Lebensgefühl rund um’s Essen auseinandersetzt und eingehender mit der „New Food Economy“ beschäftigt, kommt zu einem anderen Bild.

Auch wenn nur noch wenige Städter LandwirtInnen in ihrem Bekanntenkreis haben, suchen viele, vor allem junge Menschen, nach neuen Zugängen zu ihrem Essen, sie sind offen für neue Produkte und auch eine andere Wertschätzung. Voraussetzung ist allerdings, dass sie sich in ihren Wünschen und Anliegen ernst genommen fühlen und mit Informationen und Angeboten in ihrer modernen Lebenswelt abgeholt werden. Die sich aktuell entwickelnden Gründerszene zeigt bereits heute, wie neue Netzwerke gebildet werden, Botschaften anders gesetzt und Produkte neu entwickelt werden können.

Ich bin fest davon überzeugt, dass der Kunde von morgen eher zum engen Verbündeten der Landwirtschaft werden wird, als zu ihrem Feind, wie es uns so viele Stimmen aus der Vergangenheit glauben lassen wollen.